Eine Geschichte von A.M.

Sturmvogel

Über uns ziehen sich die Wolken zusammen. Der Wind heult, rüttelt an den Mauern, als wollte er uns in die tosende Brandung reißen, so dass wir von dem dunklen Wasser verschluckt werden. Eine schwarze Feder segelt zu Boden und landet vor meinen Füßen auf den Steinen. Als ich sie aufhebe, zerfällt sie zwischen meinen Fingern zu Asche, die vom Wind aufs Meer hinausgetragen wird. Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Unter den Wolken schweben sie, lassen sich von den Aufwinden tragen. Ich drehe mich um und renne die Treppe hinab, stoße die Tür auf. Im Saal ist es warm, und der Sturm hört auf an mir zu zerren. Suchend kämpfe ich mich durch die Menge. „Cora!“ Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich fahre herum. Kaya steht hinter mir. Die Glocken setzen ein. Wir zucken zusammen. Sie greift nach meiner Hand. Wir bahnen uns einen Weg durch die Menge. Der Gang ist dunkel. An den Wänden hängen Fackeln, deren unheimliches Licht unsere Schatten an die Wände wirft. Die Treppe führt nach unten, sie ist steil gewunden, und ich habe Angst, vor Nervosität auf den Stufen auszurutschen. Hinter uns können wir die Schritte der anderen hören. Die Stufen münden in eine Kammer. In die uns gegenüberliegende Wand ist eine Tür eingelassen. Auf uns warten mehrere schwarze Mäntel auf einer hölzernen Bank. Kaya und ich greifen uns beide einen. Ich fühle den schwarzen, schweren Stoff zwischen meinen Fingern, ehe ich ihn überstreife. Die Kapuze rutscht beinahe über meine Augen. Der Stoff ist durchzogen von silbernem Garn, das die Blitze symbolisieren soll. Nach und nach füllt sich der Raum. Kaya hat ein tapferes Lächeln aufgesetzt, aber nach all den Jahren, ist es mir ein Leichtes hinter ihre Fassade zu sehen, und die Furcht in ihr zu erkennen. Ich bin mir nicht sicher ob ich Angst habe, eher fühle ich mich betäubt. So lange haben wir auf diese Nacht hingearbeitet, und nun stehen wir hier, tragen die Kutten, warten auf den Sturm. Auf der Tür sind Worte eingraviert: Vergesst nicht, nicht ihr wählt die Vögel, sie wählen euch. Ich öffne die Tür. Das Heulen des Sturms schwillt an, als wir nach draußen treten. Ein Gang ist in den Fels geschlagen, und öffnet sich auf die Klippe. Stumm schreiten wir unter dem Steingewölbe voran, bis unsere Gruppe mit einem Mal ins Stocken gerät. Amalia ist stehen geblieben, und klammert sich an einen Felsvorsprung. „Das ist Wahnsinn.“ In ihren Augen liegt blanke Panik. „Wir sollten im Schloss bleiben, anstatt hier draußen zu sterben.“ Sie dreht sich um und rennt zurück zur Tür. Einen Moment ist es still, und wir alle starren ihr hinterher. „Sie hat recht.“ Noels Stimme zittert. Dann folgt er ihrem Beispiel. „Diese Narren!“ Arvid breitet die Arme aus. „Wir werden mächtiger werden als je zuvor!“ In seinen Augen blitzt ein Stück des Wahnsinns in ihm auf, ein Stück der Gier. „Ich hoffe, du wirst vom Blitz erschlagen“, zische ich. Schon immer habe ich Arvid und sein Streben nach Macht verabscheut. Er will auf mich losgehen, aber mehrere Novizen treten zwischen uns. „Lasst uns einfach weiter gehen.“ Kaya tastet wieder nach meiner Hand. Arvid schnaubt, aber ergreift nicht noch einmal das Wort. Als wir den Tunnel verlassen, hat es begonnen zu regnen, schwere Tropfen prasseln auf den Felsen. Ich blicke zurück. Über uns liegt das Schloss, seine spitzen Türme bohren sich in die Nacht. Die Fenster sind erleuchtet. Ich kann mich an all die Jahre erinnern, in denen wir hinter diesen Fenstern versucht haben etwas vom Geschehen auf der Klippe zu erhaschen, und jetzt sind wir diejenigen, deren Schicksal entschieden wird. Wir treten mitten in den Sturm. Wolken verdecken Sterne und Mond. Ich bin froh über Kayas Hand, denn der Wind zerrt so stark an uns, dass ich fürchte ohne ihren Halt fortgetragen zu werden. Im nahezu Stockdunkeln stolpern wir über die rutschige Klippe zur Kante. Dann zerreißt der erste Blitz den Himmel, und schlägt im tobenden Meer ein. Beinahe zeitgleich folgt das markerschütternde Donnern. Und über dem Getöse sind immer noch klar und deutlich die Schreie der Sturmvögel zu hören. Der nächste Blitz löst sich und lässt ihre Gestalten flackern. Sie sind riesig, größer noch als die Statuen im Schloss, und sie halten geradewegs auf uns zu.

Unbewusst lasse ich Kayas Hand los, mache einen Schritt näher auf den Abgrund zu. In ihren schwarzweißen Schwingen pulsieren Blitze. Sie lassen noch einmal ihren schaurigen Ruf erklingen, ehe sie auf den Felsen um uns landen. Die Wolken wandern, der Himmel reißt auf, entblößt ein Stück des Sternenzeltes. Das Trommeln des Regens verklingt, das Tosen der Brandung wird zum fernen Rauschen. Arvid stößt ein irres Lachen hervor. „Könnt ihr sie spüren, die Magie?“ Wie im Rausch wankt er über den Stein. Ohne Vorwarnung stürzt einer der Sturmvögel herab, packt ihn mit seinen Krallen. Arvids Gesicht ist frei von Angst, und erfüllt mit Gier. Der Vogel trägt ihn hinaus aufs Meer, inmitten der sich auftürmenden Wellen lässt er ihn fallen. Arvid ist kaum zu erkennen, dann verschlingt ihn das Meer. Wie festgefroren stehen wir da, unfähig uns zu rühren. Die nächsten Vögel stürzen herab. Kaya schreit, als sie in die Luft gerissen wird. Sie streckt mir die Hand entgegen, doch sie ist zu weit von mir entfernt, als dass ich sie ergreifen kann. Panisch schreie ich ihren Namen, aber der Sturm verschlingt meine Stimme. Der nächste Sturmvogel gleitet auf mich zu. Seine Krallen durchbohren meinen Mantel. Ich werde in den Himmel getragen. Ein Schock durchjagt mich, flutet meine Venen. Aus meinen Fingern strömt Energie, pure, reine Magie. Die Lichter um mich verschwimmen zu einem Knäuel, als sich ein Blitz aus mir löst. Der Wind kehrt zurück, aber meine Macht ist größer als die seine. Immer höher steigen wir. Die Luft um mich knistert, geladen mit unserer geballten Energie. Der Gesang des Regens erfüllt meinen Kopf. Ich schwebe nicht im Sturm, ich bin zum Sturm geworden. Die Erde kommt wieder näher. Der Energiefluss in mir ebbt ab, aber er ist immer noch da, umspannt mein Herz. Hoch oben, auf dem Dach des höchsten Turms lässt er mich los. Ich bin nicht die einzige auf dem Dach, aber die anderen um mich nehme ich nur verschwommen wahr, während ich meinem Sturmvogel mit den Augen folge. Bis er zwischen den Wolken entschwindet.

Von szadmin

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